Das jüngste Gerücht
Wenige Wochen bevor die ersten Protonen durch den Teilchenbeschleuniger am Cern rasen, wehren sich die Physiker gegen abstruse Verschwörungtheorien.
Von Patrick Illinger
Noch in diesem Monat soll die größte und aufwendigste je von Menschen gebaute Maschine angeworfen werden. Es ist ein gigantischer Teilchenbeschleuniger in einem 27 Kilometer langen Ringtunnel tief unter der Erde zwischen dem Flughafen von Genf und dem französischen Jura-Gebirge.
Seit mehr als zehn Jahren bauen Zehntausende Physiker und Ingenieure des Europäischen Teilchenphysiklabors Cern daran. Die kleinsten Bausteine und die fundamentalen Kräfte des Universums sollen damit erkundet werden. Doch ausgerechnet jetzt, wenige Wochen bevor die ersten Protonen durch den Large Hadron Collider rasen, sehen sich die Physiker mit ganz anderen Kräften konfrontiert: der offenbar unwiderstehlichen Attraktion abstruser Verschwörungtheorien.
Wie im Schneeballsystem vermehrt sich zurzeit das Gerücht, wonach die Teilchenkollisionen im Cern kleine Schwarze Löcher erzeugen könnten, die in der Folge wachsen und am Ende die Erde verschlingen.
Genährt wird dieses Weltuntergangsszenario von einem illustren Wissenschaftler aus Tübingen, der Kraft seines Professorentitels von einer Gemeinde technik- und wissenschaftsfeindlicher Menschen dankbar aufgenommen wird.
Der als Chemiker ausgebildete Otto Rössler will eine neue Interpretation von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie gefunden haben, der zufolge die im Cern-Beschleuniger produzierten Schwarzen Löcher innerhalb von 50 Jahren die Erde auffressen könnten.
"Zu viel Science-Fiction gelesen"
Jetzt haben die an mehr als 20 deutschen Universitäten tätigen Teilchenphysiker eine gemeinsame und unmissverständliche Stellungnahme verfasst. Sie trägt den Titel: "Die Erde wird nicht durch Schwarze Löcher verschlungen." Hinzugefügt ist eine Erklärung von Hermann Nicolai, Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam, in der er Rösslers Interpretation angreift. Dessen Behauptungen beruhten auf "grundlegenden Missverständnissen der Einsteinschen Theorie", mit anderen Worten: blanker Unsinn.
Tatsächlich ist es gemäß der aktuell bekannten physikalischen Theorien grundsätzlich möglich, dass bei den Protonen-Kollisionen am Cern winzige Schwarze Löcher entstehen. Immerhin prallen die Protonen im Beschleuniger mit je 99,999991 Prozent der Lichtgeschwindigkeit aufeinander, was physikalisch wie ein kleiner Urknall wirkt.
"Aber wenn, dann sind das ganz andere Schwarze Löcher als jene im Weltraum", sagt der Cern-Physiker und Vorsitzende des deutschen Komitees für Teilchenphysik, Peter Mättig. Siegfried Bethke, Direktor am Max-Planck-Institut für Physik in München, ergänzt: "Diese Objekte sind so winzig, dass sie praktisch keine Anziehungskraft entwickeln, und sie zerstrahlen in Sekundenbruchteilen. Die Leute, die jetzt Panik schüren, haben offenbar zu viel Science-Fiction gelesen."
Als besten Beweis für die Ungefährlichkeit von Teilchenkollisionen führen Physiker den Weltraum an. Dort prallen pausenlos alle möglichen Elementarbausteine des Universums aufeinander - oft mit viel höherer Energie als am Cern und ohne je ein zerstörerisches Schwarzes Loch zu bilden.
Doch die Idee vom selbstverschuldeten Weltuntergang ist durch Internetforen und Medienberichte inzwischen derart populär geworden, dass sich Physiker kaum noch mit anderen Themen konfrontiert sehen. "Es geht einfach nicht mehr aus der Welt", klagt Peter Mättig. Dabei wollten die Physiker eigentlich die Welt erklären und nicht zerstören. Quelle: Süddeutsche
Geht heute die Welt unter?
Startschuss für das größte Experiment aller Zeiten: Physiker versetzen sich in die Zeit kurz nach dem Urknall – und einige in Angst.
Von FOCUS-Online-Autor Wolfgang Müller
Im LHC werden Teilchen auf Fast-Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Was passiert dann?
Heute früh wurden erstmals Protonen in dem leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger aller Zeiten zum Zirkulieren gebracht. Zunächst geht es den Verantwortlichen darum, stabile Teilchenstrahlen in dem Ringkanal mit einem Umfang von 27 Kilometern in 50 bis 150 Metern Tiefe im schweizerisch-französischen Grenzgebiet um die Stadt Genf aufzubauen.
Wenn dieser Schritt erfolgreich verläuft, wollen die Wissenschaftler die zur Teilchenbeschleunigung eingesetzte Energie schrittweise erhöhen und erst anschließend mit den geplanten Teilchenkollisionen beginnen. Das wird erst in einigen Wochen der Fall sein. Bis der Praxistest die Befürchtungen derjeniger zerstreuen kann, die in dem betriebsbereiten „Large Hadron Collider“ (LHC) des Europäischen Kernforschungszentrums CERN mit Sitz in Genf eine potenzielle Weltvernichtungsmaschine sehen, wird daher noch einige Zeit vergehen.
In dem sechs Milliarden Schweizer Franken teuren Beschleuniger wollen die CERN-Wissenschaftler unter kontrollierten Bedingungen Zustände herstellen, wie sie kurz nach dem Urknall im Universum herrschten. Dazu wollen die Physiker Teilchenstrahlen mit bislang unerreicht hoher Energie (bis zu sieben Teraelektronenvolt) auf nahezu Lichtgeschwindigkeit (etwa 300 000 Kilometer pro Sekunde) beschleunigen und aufeinanderprallen lassen.
Mehrere Experimente, an denen Forschungsinstitute aus aller Welt beteiligt sind, sollen helfen, ungelöste Rätsel der Physik zu klären. Überprüft werden soll etwa die Theorie des sogenannten „Higgs-Feldes“, in dem Materiebausteine ihre Masse erhalten sollen oder die Frage, warum sich kurz nach dem Urknall nicht sämtliche Materie- und Antimaterie sofort wieder in Energie zurückverwandelte.
Gegen die gigantische Maschine – nach Angaben des CERN ist es die größte, die je gebaut wurde – war im Vorfeld eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht worden. Drei Privatleute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz reichten parallel einen Eilantrag auf einen sofortigen Stopp des LHC-Projekts ein. In ihrer Klage beriefen sie sich auf den deutschen Chaos-Theoretiker Otto Rössler. Nach dessen Meinung könnten bei den geplanten Experimenten schwarze Löcher entstehen, mit genügend Kraft, um die Erde zu verschlucken. Der Straßburger Gerichtshof hatte angekündigt, die Klage zu prüfen. Den Eilantrag wiesen die Verantwortlichen jedoch zurück.
Renommierte Physiker weisen Bedenken zurück
Die neue Supermaschine der Elementarphysik wirkt auf Laien schnell bedrohlich – gerade weil die Wechselwirkungen der Kräfte in dem riesigen Teilchenbeschleuniger nur von Experten eingeschätzt und verstanden werden können. Die CERN-Forscher wehrten jedoch alle Sicherheitsbedenken als unbegründet ab. „Der LHC ist sicher, und jegliche Vermutung, dass er ein Risiko darstellen könnte, ist reine Fiktion“, sagte CERN-Generaldirektor Robert Aymar. „Der LHC wird uns in die Lage versetzen, im Detail zu untersuchen, was in der Natur um uns herum geschieht.“ Der amerikanische Physik-Nobelpreisträger von 2004, David Gross, hatte die Diskussion um den Teilchenbeschleuniger und gefährliche schwarze Löcher als „albern und absurd“ bezeichnet.
Der Astrophysiker Harald Lesch vom Institut für Astronomie und Astrophysik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München meinte zur Debatte in der Sendung „heute-journal“ am Dienstag im ZDF: „Die Kritiker haben, glaube ich, zu wenig ins Weltall geschaut. Das Universum macht solche Reaktionen, wie man sie am LHC künstlich hervorruft, ja schon seit Jahrmilliarden.“ Wenn dabei jedes Mal ein Schwarzes Loch entstanden wäre, dann würde es die Kritiker gar nicht geben, fügte Lesch hinzu.
Dass in dem unterirdischen Ring tatsächlich Miniaturausgaben von schwarzen Löchern entstehen könnten, ist nicht ausgeschlossen. Diese würden jedoch nach Expertenmeinung unmittelbar nach ihrer Entstehung wieder in sich zusammenfallen.
Bei den beteiligten Forschern löst die neue Maschine und ihre Einsatzmöglichkeiten im Dienst der Wissenschaft zwar keine Euphorie, aber doch freudige Erwartung aus. Der Münchener Physikprofessor Siegfried Bethke sagte etwa zur Möglichkeit, dem Rätsel vom Verbleib von Materie nach dem Urknall und damit den Gründen für die Existenz von Planeten, Sonnen und letztlich auch von Menschen auf die Spur zu kommen: „Eigentlich dürfte es uns gar nicht geben. Das ist doch Grund genug, mal nachzuforschen“.
Die offizielle Eröffnungsfeier für den „Large Hadron Collider“ soll am 21. Oktober stattfinden. Quelle: Focus
100 Dinge, die wir noch vor dem Weltuntergang machen müssen!